Frühchen-Eltern unterstützen

Frühchen-Eltern unterstützen: Expert*innen-Interview mit Krankenpflegerin Annika

Liebe Annika, du bist Kinderkrankenschwester und hast auf einer Frühgeborenen-Intensivstation gearbeitet. Vielen Dank, dass du uns heute als Expertin für dieses wichtige Thema zur Verfügung stehst!

Mit diesem Interview möchten wir gerne die Fragen von betroffenen Frühchen Eltern beantworten - aber auch die Fragen von Großeltern, Geschwistern oder Freunden, die auf der Suche nach Informationen darüber sind, was eine Frühgeburt für die Familie bedeutet und wie sie Frühchen-Eltern unterstützen können.

Frage: Bis wann ist ein Säugling ein Frühchen?


Antwort: Kannst du uns eine Definition für ein Frühchen geben? Eine Schwangerschaft dauert normalerweise 40 Wochen. Kommt ein Kind
vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Welt, handelt es sich um ein Frühgeborenes. Das Geburtsgewicht ist dabei nicht entscheidend.

Die Ursachen für Frühgeburten können z.B. Probleme der Plazenta, das Alter der Schwangeren, körperliche oder seelische Belastungen, Infektionen, Medikamenten-, Drogen- oder Nikotinabhängigkeit oder Mangelernährung sein. Es gibt jedoch auch kindliche Ursachen von Frühgeburten: Mehrlinge kommen zum Beispiel häufig zu früh zur Welt. In Deutschland ist aktuell etwa jedes zehnte Neugeborene ein Frühgeborenes.

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Frage: Das Kind ist zu früh geboren: Was bedeutet dies für das Kind und die Eltern?


Antwort: Zunächst ist die Versorgung in einem Perinatalzentrum notwendig. Perinatalzentren sind besonders auf die Versorgung frühgeborener Kinder ausgelegt. Ist das Kind in einer Klinik ohne ein solches Perinatalzentrum geboren, wird das Frühchen mit dem Babynotarztwagen dorthin verlegt. Viele Frühgeborene kommen per Kaiserschnitt auf die Welt, sodass die Mutter nach der OP nicht direkt mit ihrem Kind verlegt werden kann. Es kommt dann meist zu einer räumlichen Trennung in den ersten Tagen. Dies ist für Frühchen Eltern verständlicherweise oft schwer. Hier spielt der andere Elternteil des Kindes eine entscheidende Rolle: Er kann die Muttermilch bringen und dem Kind nah sein.

Je nachdem, wie früh das Kind zur Welt gekommen ist und wie stabil es ist, wird es auf einer Intensivstation oder auf einer so genannten „Peppelstation“ aufgenommen.

Auf der Frühchen- Intensivstation liegen mehrere Kinder zusammen in einem Zimmer. Im Inkubator (Brutkasten) wird versucht, die Atmosphäre im Mutterleib nachzuahmen. Es ist warm, feucht und durch Tücher begrenzt. Viele kleine Frühgeborene brauchen einen Atemunterstützung, weil die Lunge noch sehr unreif ist. Die Kinder werden überwacht durch einen Monitor, der die Herzfrequenz und die Sauerstoffsättigung im Blut misst. Die Eltern können ihr Kind jederzeit besuchen und bei den Versorgungen zuschauen und mithelfen. Ist ein Kind stabil, können Mama und Papa mit ihm „Känguruhen“- das bedeutet, dass das Kind aus dem Inkubator auf die Brust von Mama oder Papa gelegt wird, um zu kuscheln.

In den meisten Kinderkliniken können auf den „Peppelstationen“ mittlerweile die Mütter mitaufgenommen werden, um Teile der Versorgung zu übernehmen und um auf die Entlassung gut vorbereitet zu sein. Hier werden Kinder aufgenommen, die selbstständig atmen können und nicht mehr intensivmedizinisch überwacht und versorgt werden müssen.

Ungefähr zum geplanten Geburtstermin können die meisten Frühgeborenen nach Hause. Hierfür sollte auch ein Gewicht von 2500 g erreicht worden sein. Außerdem müssen die Kinder ihre Körpertemperatur bei etwa 37 °C selbst halten können und die Mahlzeiten zuverlässig schaffen zu trinken.

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Frage: Können Frühgeborene normal gestillt werden?


Antwort: Vor der 34. Schwangerschaftswoche ist der Saug-Schluck-Akt noch nicht ausgereift, so dass die Frühgeborenen eine Magensonde – also einen kleinen, flexiblen Plastikschlauch durch die Nase in den Magen – benötigen, um ernährt zu werden. Aber auch danach brauchen viele Kinder eine Magensonde, weil Stillen und Trinken eine ganze Menge Kraft erfordert. Sehr kleine Frühgeborene bekommen 2- bis 3-mal stündlich ihre Nahrung durch die Sonde und schlafen dabei gemütlich weiter.

Die Mutter kann aber die Muttermilch abpumpen und ihr Kind somit vollständig ernähren. Je nachdem, wie stabil das Kind ist, kann es zum Sondieren auf die Brust der Mutter gelegt werden. So kann ein erstes Angewöhnen für beide stattfinden.

Auf den „Peppelstationen“ müssen die Frühgeborenen dann trinken lernen. Hier werden dann Stillversuche gemacht. Das heißt man wiegt das Kind vor und nach der Mahlzeit und kann genau wissen, wieviel es wirklich getrunken hat.

Hat sich alles eingespielt, ist Stillen also ganz normal möglich!

Frage: Haben Frühchen Spätfolgen?


Antwort: Frühchen haben einige klassische „Baustellen“, die ganz individuell ausgeprägt sind und nicht bei jedem Kind vorkommen müssen. Tendenziell kann man sagen, je früher das Kind geboren ist, desto größer ist das Risiko für Folgeschäden.

Das erste sind die Augen: Durch das Verabreichen von Sauerstoff kann es zu Schädigungen der Netzhaut kommen. Deshalb sollten Frühgeborene regelmäßig vom Augenarzt untersucht werden.

Das zweite ist das Gehirn: Ein unreifes Gehirn birgt die Gefahr einer Hirnblutung. Regelmäßige Kontrollen und eine adäquate Versorgung sind daher wichtig.

Wichtig ist vor allem, dass die gesamte Entwicklung regelmäßig kontrolliert wird.

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Frage: Was ist für Frühgeborene besonders wichtig? Welche Tipps gibst du Frühchen-Eltern in der Kinderklinik?


Antwort: Ruhe und Geduld. Frühgeborene sind sehr empfindlich und reagieren schnell gestresst. Wichtig ist eine ruhige Umgebung. Gerade sehr frühe Frühgeborene brauchen am Anfang viel Zeit, um sich anzupassen. Alles, was für gesunde Babys selbstverständlich ist, kostet das Frühgeborene Kraft. Also zum Beispiel das Halten der eigenen Körpertemperatur, das Atmen und das Trinken.

Am besten sollten Eltern feste Versorgungszeiten mit dem Pflegepersonal abstimmen und festhalten. So können sich alle – auch das Kind – darauf einstellen, wann Mama zum Kuscheln und Versorgen kommt.

Am wichtigsten: Nicht verzweifeln bei der Berg- und Talfahrt eines Frühchens!

Infobox: Wichtige Infos für Frühchen-Eltern

  • Müttern von Frühchen steht ein erweiterter Mutterschutz von 12 Wochen zu. Die notwendige Bescheinigung stellt in der Regel die Geburtsklink aus.
  • Es besteht die Möglichkeit von finanzieller Unterstützung durch die Krankenkasse. So können auf Antrag zum Beispiel Fahrtkosten zur Klinik und eine Haushaltshilfe bzw. die Betreuung von Geschwisterkindern übernommen werden.
  • Ebenfalls eine Regelleistung der Krankenkasse ist die sozial­medizinische Nachsorge. Hier unterstützen Fachkräfte die Frühchen-Eltern in der ersten Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu Hause.
  • Auch im Rahmen des Programms „Frühe Hilfen“können Familien mit Frühchen zu Hause unterstützt und begleitet werden.
  • Oft besteht bei Frühchen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ein erhöhter Pflegebedarf im Vergleich zu Gleichaltrigen. In diesem Fall kann Pflegegeld beantragt werden.
  • Eine wichtige Anlaufstelle mit Hilfe für Frühchen-Eltern ist der Bundesverband Das frühgeborene Kind e.V. Auf der Webseite finden Betroffene ganz viele Informationen, Austausch- und Beratungs­möglichkeiten und sogar eine App mit kindgerechten Infos für Geschwisterkinder.

Frage: Wie können Angehörige und Freunde Frühchen-Eltern unterstützen – während der Zeit in der Kinderklinik, aber auch danach?


Antwort: Die Zeit in der Kinderklinik ist für Eltern und Kind sehr anstrengend und häufig mit Fahrerei und viel Organisation verbunden. Zudem ist die Angst um das Kind groß. Anfangs vom eigenen Kind getrennt zu sein, einen Großteil der Versorgung des eigenen Kindes an Pflegekräfte abgeben zu müssen und der Alltag auf einer Intensivstation mit all ihren Geräten und Geräuschen zu erleben, ist für Eltern sehr belastend.

Gerade ganz am Anfang, wenn die Mutter von der Geburt selbst noch erschöpft ist. Hier sollte vor allem Rücksicht auf die Gesamtsituation genommen werden. Sicher haben sich Eltern diese Situation nicht so vorgestellt, empfinden vielleicht sogar Neid oder Schuld.

Hier ist es wichtig, für die Eltern da zu sein und Hilfsangebote zu machen – und ihnen keine Vorwürfe machen, wenn sie sich nicht melden. Ganz konkrete Beispiele für sinnvolle Unterstützung und Entlastung der Frühchen Eltern wären zum Beispiel bei Bedarf die Betreuung von Geschwisterkindern zu übernehmen, im Haushalt zu helfen oder wichtige Besorgungen zu erledigen. In der ersten Zeit zu Hause ist aus meiner Sicht vor allem Normalität wichtig.

Annika Henselmeyer 

Annika ist Kinderkrankenschwester und hat in Münster auf der Frühgeborenen- Intensivstation gearbeitet. Mittlerweile arbeitet sie als Pflegepädagogin an der Akademie für Gesundheitsberufe in Minden und bildet dort Gesundheits- und Kinderkrankenschwestern aus.

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